Es gibt Menschen, die beginnen ihren Tag mit Yoga, ayurvedischem Tee und Dankbarkeitsübungen. Ich beginne meinen Tag meistens mit einem Kaffee, so stark, dass er vermutlich einen Mittelklassewagen antreiben könnte, und einem tapferen Blick in meine Social-Media-Statistiken. Dieser Blick ist ungefähr so entspannend wie die Steuerprüfung beim Finanzamt: egal wie gut man vorbereitet ist, man hat immer das Gefühl, dass am Ende etwas richtig schiefgeht.
Die Reichweite auf Instagram und Facebook hat die gleiche Berechenbarkeit wie ein betrunkener Hamster im Laufrad. Mal rennt er los, als gäbe es kein Morgen, mal fällt er mitten in der Bewegung um – und man weiß nicht, ob er nur eine kreative Pause einlegt oder tatsächlich tot ist. Ich poste ein Bild – 15.000 Leute sehen es. Am nächsten Tag ein mindestens genauso gutes Bild – 500 Leute. Dann lade ich eine Story hoch, mit Herzblut, Witz und Timing – Reichweite 200. Zwischendurch stolpert irgendein banaler Handyschnappschuss meiner Kaffeetasse in die Höhe und erreicht mehr Menschen als ein komplettes Werbebudget.
Manchmal fühle ich mich wie ein Versuchskaninchen in einem Algorithmus-Labor, in dem ein unsichtbarer Praktikant würfelt, wie viele Menschen meine Inhalte heute sehen dürfen. Euphorie, wenn ein Beitrag „explodiert“, Frustration, wenn der nächste im Nirvana versinkt, Resignation, wenn man sich fragt, ob überhaupt ein Zusammenhang zwischen Qualität und Reichweite besteht. Spoiler: vermutlich nicht. Es ist ein Glücksspiel, und ich bin die Spielfigur.
Willkommen in der Kommentar-Hölle
Früher waren sie so etwas wie eine kleine Belohnung für die Arbeit: „Schönes Bild!“, „Tolle Arbeit!“ oder auch mal ein konstruktiver Hinweis. Heute sind sie ein Minenfeld, das mich immer wieder aufs Neue überrascht.
Die beleidigenden und sexuell übergriffigen Kommentare zu den Models sind ein Thema für sich. Man postet ein kunstvolles Porträt, das die Persönlichkeit eines Menschen hervorhebt, und bekommt Kommentare wie „ma wie fett“ oder „hallo süsse“. Ein absurdes Schauspiel, vor allem, weil ich als männlicher, heterosexueller Fotograf meistens selbst nur mit dem Kopf schüttle. Es scheint, als hätte das Internet eine Art Tarnkappe für Anstand. Die Anonymität im Netz kann die Hemmschwelle für beleidigende Äußerungen senken. Manchmal frage ich mich, ob manche Leute denken, die Kommentarspalte sei ein rechtsfreier Raum, in dem man alles herausposaunen kann, was einem gerade in den Kopf kommt.
Besonders skurril finde ich, dass die Anonymität gar nicht immer die Ursache ist. Eine Studie der Universität Zürich hat sogar gezeigt, dass auch viele Menschen, die unter ihrem Klarnamen posten, zu Hasskommentaren neigen. Das ist fast noch beunruhigender, weil es zeigt, dass die Verrohung der Sprache salonfähig geworden ist.
Früher stand da „Tolles Foto!“, heute liest man Perlen wie:
- „Hallo Süße 😉“ – geschrieben von Werner, dessen Profilbild ihn mit einer Grillzange zeigt.
- „Ma wie fett.“ – von jemandem, der vermutlich Chips in der Hand hatte, während er das tippte.
- „Zeig mehr Haut!“ – unter einem Porträt, das mit Licht, Schatten und Ausdruck arbeitet, nicht mit Erotik.
- „Warum überhaupt?“ – der philosophische Minimalismus in Kommentarform.
Dann ist da noch das Phänomen der „Warum“-Fragen. Jedes Posting, jede Werbeanzeige, jedes noch so unschuldige Bild wird hinterfragt. „Warum veranstaltet man einen Workshop?“, „Warum ausgerechnet an diesem Datum?“ – Letzteres wurde mir sogar mit dem Todestag der eigenen Großmutter begründet. Es fühlt sich an, als würde jeder Beitrag, der nicht haargenau den persönlichen Erwartungen entspricht, mit einem Fragezeichen und einem ungläubigen Kopfschütteln quittiert. Die Sachlichkeit ist oft verschwunden, die Diskussionen werden persönlich.
Natürlich mein persönliches Highlight: „Warum machst du deinen Workshop am 12. Mai? Das ist der Todestag meiner Oma.“ – Ich wusste nicht, ob ich kondolieren oder eine Schweigeminute einbauen sollte.
Politische Zuschreibungen und die Sache mit dem Baum
Zu allem Überfluss hat sich mein Social-Media-Feed in eine Art politisches Schlachtfeld verwandelt. Plötzlich erhalte ich Nachrichten von „linken“ und „rechten“ Lagern zu Fotos, die rein gar nichts mit Politik zu tun haben. „Feministinnen“ beschweren sich über Fotos von Frauen, weil ich zu wenig Männer fotografiere, oder umgekehrt. Noch viel besser sind dann Kommentare von diversen Feministinnen die sich über die zu leicht bekleideten oder zu schönen Models beschweren und gleich Drohungen, wie Melden an Facebook, Instagram, usw. mitschicken. Das ist ein Problem, das weit über die Fotografie hinausgeht. Politische Informationen und Diskussionen sind auf Plattformen wie Facebook und Twitter weit verbreitet. Es gibt keine „sicheren“ Themen mehr, jeder Beitrag kann zum Auslöser einer hitzigen Debatte werden, auch wenn man nur ein Bild von einem Sonnenuntergang teilt.
Nichts ist mehr neutral. Nicht einmal ein Sonnenuntergang.
- Rechts: „Endlich zeigt mal jemand die Schönheit des Abendlandes!“
- Links: „Skandal, der Klimawandel wird romantisiert!“
- Mitte: „Photoshop! Fake!“
Ich schwöre: Es war nur ein verdammter Baum. Aber selbst ein Baum wird heute zum Politikum.
Noch besser funktioniert das bei Gender-Themen:
- Fotografiere ich Frauen → Vorwurf: Sexistisch.
- Fotografiere ich Männer → Vorwurf: Diskriminierend.
- Fotografiere ich beide → Vorwurf: Klischee.
- Fotografiere ich Brokkoli → Vorwurf: Unsichtbarmachung der Menschheit.
Egal was ich tue – falsch. Immer falsch. Immer angreifbar.
Nachrichten aus dem Irrenhaus
Noch unterhaltsamer als Kommentare sind die privaten Nachrichten. Dort tummelt sich das literarische Unterholz der Menschheit:
Ein Liebesbrief von Klaus:
„Du bist die schönste Frau, die ich je gesehen habe. Ich glaube, wir sind füreinander bestimmt. Ich habe schon meiner Mutter von dir erzählt. Schreib mir bitte zurück, meine Süße. Dein zukünftiger Ehemann, Klaus 💘.“
Das Problem: Klaus hat nicht verstanden, dass ich der Fotograf bin – und nicht das Model.
Dann die politische Nachricht:
„Wie kannst du ein Model mit blauem Kleid posten? Bist du AFD Mitglied? Schäme dich!“
Oder der Gesellschaftskritiker:
„Warum sind deine Workshops nicht gratis? Denk mal an die mit weniger Geld als dich. Und warum immer schöne Models? Wo bleibt der Bierbauch?“
Und natürlich die Spam-Liga:
„Hello Sir, if you send me 300 Euro, I make you rich. You photo very nice. I love you. Please trust me.“
Es ist Comedy, Satire und Horrorfilm in einem Postfach.
Werbeanzeigen: Masochismus gegen Bezahlung
Man könnte meinen, Werbung sei die Lösung: ein paar Euro investieren, um Reichweite zu kaufen. In Wahrheit ist es wie freiwillig auf eine Bühne zu treten und „Bitte beleidigt mich!“ zu rufen. Unter gesponserten Beiträgen sammelt sich der Wahnsinn: „Warum genau dieses Datum?“, „Warum nicht gratis?“, „Warum überhaupt?“ – und man bezahlt dafür, dass der Unsinn sichtbarer wird. Das ist Social-Media-Masochismus in seiner reinsten Form.
Zwischen Humor und Resignation
Ich erzähle das mit einem Augenzwinkern, weil man sonst durchdrehen würde. Aber hinter all dem steckt eine Wahrheit: Social Media ist ein Spiegel der Gesellschaft – ungefiltert, roh, enthemmt. Kommentare, die man im echten Leben niemals sagen würde, landen in Sekunden unter Bildern. Forscher nennen das den „Online Disinhibition Effect“: Maske auf, Moral aus.
Als Fotograf muss man lernen, damit umzugehen. Reichweiten sind kein Qualitätsurteil. Kommentare sind oft mehr Projektion als Kritik. Und Absurditäten darf man nicht zu ernst nehmen.
Die Absurdität akzeptieren
Social Media ist ein Zirkus. Wir treten freiwillig in die Manege, und das Publikum wirft nicht Blumen, sondern Tomaten. Kommentare wie „Hallo Süße“ oder „Warum am Todestag meiner Oma?“ sind nicht Ausnahmen, sondern Teil der Show. Man kann sich ärgern – oder man lacht darüber.
Reichweite ist oft Zufall
Die Reichweite ist kein Urteil über die Qualität der Arbeit. Sie ist ein Würfelwurf, meistens eine Laune des Algorithmus. Wer sie als Maßstab nimmt, verliert den Verstand. Die einzige gesunde Haltung: machen, was man liebt, und sich nicht von Zahlen versklaven lassen.
Müll von Perlen trennen
95 Prozent ist Lärm. Aber manchmal findet sich eine ehrliche Rückmeldung, ein Kommentar, der wirklich meint: „Tolles Bild, hat mich berührt.“ Genau diese Momente zählen. Der Rest gehört in die digitale Mülltonne.
Vielleicht doch Brokkoli
Vielleicht ist die Lösung wirklich Brokkoli. Ein Gemüse, das niemand erotisiert, das politisch (noch) harmlos ist, das keine Feminismus-Debatten auslöst und das vermutlich keinen Kommentar wie „Zeig mehr Haut“ bekommt. Oder man fotografiert weiter Menschen – wissend, dass man nie allen gefallen kann, aber immerhin Geschichten erzählt. Denn am Ende ist das unser Job: Bilder schaffen, die etwas auslösen – auch wenn es nur ein absurdes „Hallo Süße“ ist.
Dieser Blogbeitrag soll nicht nur ein humorvoller Klagegesang sein. Ich habe das Gefühl, wir haben als Gesellschaft ein Stück weit vergessen, dass hinter jedem Profil, hinter jedem Bild, ein Mensch mit echten Emotionen und einer Geschichte steckt. Manchmal voller Leidenschaft, oft voller Selbstzweifel und immer voller Hoffnung.
Am Ende des Tages geht es mir bei meiner Arbeit nicht nur um die perfekte Belichtung oder die gestochen scharfe Schärfe. Es geht um Geschichten. Geschichten, die ich mit meiner Kamera erzähle, und die oft mehr zeigen als ein Gesicht. Es ist enttäuschend zu sehen, wie diese Geschichten in einem Meer aus Hass, Unverständnis und oberflächlicher Kritik untergehen.
Aber auch das ist Teil des Spiels. Man kann sich dem Wahnsinn hingeben, sich beschweren oder versuchen, das Beste daraus zu machen. Und vielleicht ist der beste Weg, ein Lächeln zurückzugeben und zu hoffen, dass sich der Algorithmus morgen wieder von seiner gnädigsten Seite zeigt.
In diesem Sinne, danke fürs Lesen 🙂 !!
Euer Reinhard aka netpixel.at
Hallo Reinhard, deine Bilder sind sowieso eine Klasse für sich, bin aber immer auch sehr von deinen Texten begeistert.